Georgien Reise

Links, rechts – Chacha-cha: Eine Reise durch Georgien

Gastbeitrag von Henrik

300, 400, 600, 900. Immer steiler steigt die Kurve der georgischen 7-Tages-Inzidenz in immer neue, bis dahin weltweit unübertroffene Höhen. Doch 16 Monate Pandemie und Fernweh lassen uns alle Vorsicht und Vernunft über Bord werfen und gen Kaukasus, genauer nach Georgien, aufbrechen. Zu einer gut zweiwöchigen Reise voller Natur, Kultur und Kulinarik.

Nach mehr als anderthalb Jahren ohne Auslandsreise fühlt sich vieles am Flughafen neu an. Einchecken, Boarding, Start, Landung, Gepäck einsammeln, Passkontrolle, ab durch den Zoll und raus in ein neues Land. Endlich wieder! Nur die Organisation des Transfers wurde uns dieses Mal abgenommen: Ein Fahrer erwartet uns und bringt uns schnellstens zum Apartment unseres seit kurzem in Tiflis arbeitenden Freundes Lutz. Dort angekommen geht es – es ist vier Uhr morgens – fast noch schneller in die Betten. Denn kaum vier Stunden später reißen uns die Wecker erbarmungslos aus dem Schlaf. Damit wir nicht zu spät zum ersten Höhepunkt der Tour aufbrechen können: einer Weinlese mit anschließender Supra. 

Über die staubigen Straßen des östlichen Landesteils geht es an Tag eins in die Region Kachetien. Einen Landstrich, der mehr noch als der Rest des kleinen Staates seine vieltausendjährige Weinbautradition lebt. Kaum vor Ort angekommen, haben wir schon Eimer und Messer in der Hand und befreien die Rebstöcke von ihrer Traubenlast. Nach getaner Arbeit kosten wir erstmals Chacha – den typischen Traubenbrand, der uns den Rest der Reise treu begleiten wird und brechen zum Hof des Winzers auf. Dort werden die Trauben maschinell entstielt und in vergrabene Tonamphoren gefüllt. Hiermit ist der arbeitsreiche Part des Tages beendet und die Supra kann beginnen. 

Eine Feier georgischer Gastlichkeit

Übersetzt ist eine Supra schlicht ein Festmahl. Aber sie ist weit mehr als das. Sie ist gleichsam eine Huldigung an die georgische Küche wie auch eine  Verneigung vor der Familie, den Toten, dem Vaterland, den Frauen und den Freunden. Die entsprechenden Trinksprüche werden vom Tamada humorvoll-pathetisch vorgetragen und ziehen sich wie ein roter Faden durch den Abend. Immer wieder animiert er dabei auch die Gäste, ihre eigene Gedanken zum jeweiligen Thema zum Ausdruck zu bringen. Michael war einer der Auserwählten und meisterte seine Sache mit Bravour. Zwischen den Sprüchen wird Völlerei betrieben: Schaschlik, mit Walnüssen gefüllte Auberginen, Chutneys, Salate, Brot, eingelegter Kohl und mehr. Bis nichts mehr geht. Weder flüssig noch fest. Stichwort: Chacha. Durch Lutz hatten wir die Möglichkeit, diese einmalige Gelegenheit bei einem seiner Kollegen wahrzunehmen. Wem sie sich ebenfalls bietet, der sollte sie unbedingt wahrnehmen. 

Eine kurze Nacht und ein verlorenes Smartphone (das sich nach einigen Stunden wieder auffand) darauf geht es mit dem Pickup durch Kachetien. Zur einen Seite stets die schneebedeckten Berge, zur anderen die weite Ebene mit ihren endlosen Weinfeldern. Es geht nach Signaghi, die georgische Stadt der Liebe. Der pittoreske Ort liegt malerisch auf einem Bergrücken und bietet fantastische Blicke auf die Gipfel und die weite Steppe bis nach Aserbaidschan. Kein Wunder, dass viele Paare hierher kommen, um sich ihr Jawort zu geben. Ein Abendessen “with a view” und einige Stunden Fahrt später, geht es ab ins Bett. Denn am nächsten Tag beginnt nach diesem furiosen Aufgalopp unser Trip durch den wilden Kaukasus. Zwischenziel: das etwa 250 Kilometer westlich gelegene Kutaissi.

Kutaissi – alte Hauptstadt im Herzen Georgiens

Lutz hatte uns eindringlich vor der Fahrt in einer der Marshrutka genannten Minibusse gewarnt. Pflichtschuldig buchen wir also Zugfahrkarten und rufen ein Uber. Wie bestellt bringt es uns auf direktem Weg zum Zentralbahnhof. Denken wir. Am Ziel angekommen ist alles vorhanden, was einen Bahnhof im Allgemeinen ausmacht: Bahnsteige, Gleise und ein, wenn auch etwas heruntergekommenes, Empfangsgebäude. Aber  von Reisenden, Hinweistafeln oder gar Zügen fehlt jede Spur. Der wartende Taxifahrer versteht auf Nachfrage nur – nun ja – Bahnhof – und gibt sich die Ehre.

Das Schicksal heißt also: Marshrutka. Sorry, Lutz. Im voll besetzten Neunsitzer geht es auf den Highway, der uns mit der Parole “Have a nice trip!” herzlich empfängt. Solange die Straße vierspurig ausgebaut ist, ist die Fahrt tatsächlich ganz nice. Balkan- (oder Kaukasus-) Pop aus den Boxen, flottes Tempo, geordnet fließender Verkehr. Doch mit dem Ende der Ausbaustrecke nach gut 100 Kilometern Fahrt, ist es mit den guten Sitten hinter dem Lenkrad vorbei.

Der Fahrer entpuppt sich, wie die Mehrzahl seiner Artgenossen, als Anhänger eines ausgeprägten Straßen-Darwinismus. Die zwei wichtigsten Regeln: “Überholt werden darf ausschließlich vor Kurven und Kuppen.” sowie “Ausgewichen wird niemals mehr als eine Sekunde vor dem Frontalzusammenprall.”

Für den Fall, doch einmal den Kürzeren zu ziehen, bekreuzigt sich die einheimische Wagenbesatzung sicherheitshalber vor jedem Wegkreuz und jeder Kapelle drei Mal.

Fahrt mit der Marshrutka

Einige Stunden später erreichen wir – den Göttern sei’s gedankt – bei bestem Wetter den zentralen Platz von Kutaissi, Hauptstadt der Region Imeretien und mit etwa 150.000 Einwohnern drittgrößte Stadt Georgiens. Bedingt durch die wenigen Touristen in Zeiten der Pandemie ist es kein Problem, drei freie Betten in einer empfohlenen Unterkunft zu ergattern. Da das Haupthaus an der vielbefahrenen Straße ausgebucht ist, wird uns das  “Apartment” in einer Seitengasse zugewiesen. Das geräumige Häuschen zeichnet sich durch eine Möblierung aus, bei der es nicht wunderte, würde sie als Kutaissier Barock bezeichnet: Schnitzereien, Blattgold, Tinnef. Alles  sehr üppig. Der Kontakt mit der Hotelière ist, auch wenn wir neben “Apartment, super!”, “Chacha” und “Cognac”, wenig Konversation betreiben können, sehr anregend. Bei jeder Begegnung lädt sie zu einer Runde der erwähnten Getränke. Da sagen wir doch gerne Gagimardschos – Prost – und kommen häufiger vorbei.

Kutaissi ist landschaftlich reizvoll im Tal des wilden Rioni gelegen und bietet mit seiner Umgebung einiges, was zwei Tage Aufenthalt absolut rechtfertigt. Schöne  Jahrhundertwendearchitektur, die über der Stadt thronende Kathedrale, die Akademie von Gelati, verträumte Klöster und die Martvili-Schlucht sind einen Besuch wert. Es ist ratsam, zur Erkundung der Gegend einen Fahrer zu buchen, was mit gut 100 Lari pro Tag, also etwa 30 Euro zu Buche schlägt. So sparen wir im Vergleich zum Marshrutka einiges an Zeit und Nerven. Zurück in der Stadt stärken wir uns in Bikentias Kebabery mit einem Menü aus großem Bier und Kebab mit pikanter Soße für 3 Euro, um anschließend den Abend in einem der vielen Cafés am Fluss ausklingen zu lassen. 

Swanetien – zum wilden Dach Europas

Von Kutaissi aus sind es gute 200 Kilometer nach Mestia in Oberswanetien. Das macht die Stadt zu einem guten Ausgangspunkt für Reisen in diese sehr ursprüngliche Region. Alternativ werden zwar auch Flüge von Tiflis zum Königin-Tamar-Flughafen angeboten. Doch lohnt sich die Fahrt mit dem Pkw, insbesondere das Teilstück ab Sugdidi, landschaftlich sehr. Mit jeder Kurve geht weiter hinauf. Vorbei an der höchsten Bogenstaumauer der Welt, eröffnen sich spektakuläre Aussichten, bis wir auf 1.500 Metern Höhe das gut erschlossene Städtchen erreichen. Gleich nach dem Check-in, erkunden wir den Ort auf einem zweistündigen Rundgang und landen schließlich im Lushnu Qor Restaurant. Die deutschsprachige Leitung offeriert deftige Gerichte und obligatorischen Chacha, während sich von der Terrasse ein fantastischer Blick auf den farbenprächtigen Sonnenuntergang über den Bergen bietet. Erschöpft und durchgefroren, Corona hat uns einen Platz im Freien wählen lassen, sinken wir im gut beheizten Guesthouse in die Betten. Voller Vorfreude auf das, was uns in den kommenden Wandertagen erwartet. 

Nach dem Frühstück schultern wir die Tagesrucksäcke (das Reisegepäck bleibt im Guesthouse) und tragen sie – zum Taxi. Die Wettervorhersage hat in vier Tagen sehr schlechtes Wetter angekündigt. Das hat uns schweren Herzens entscheiden lassen, die erste Etappe der viertägigen Tour auszulassen, um so unser Ziel Uschguli bei erträglichen Witterungsbedingungen zu erreichen.

Die Wanderung beginnt also in Zabeshi und erstreckt sich bis Adishi über nur knappe zwölf Kilometer. Doch diese verlangen uns mit Steigungen von bis zu 24 Prozent Einiges an Beinarbeit ab. Der gut beschilderte Weg führt abwechslungsreich über Wiesen, durch dichten Wald, aber auch entlang einer der wenigen Skipisten und immer wieder über  Bäche, die entweder via Planken oder Steine gequert werden.

Adishi besteht aus wenigen, halb zerfallenen Höfen, von denen die meisten auf Wandertouristen wie uns warten. So auch jener, in den es uns verschlägt. Das sogenannte Hotel Murqvami verfügt über ein unbeheiztes Vierbettzimmer, eine Dusche auf dem Flur sowie das Wohn-Schlaf-Koch-Zimmer der Hüttenwirte. Direkt neben dem Ehebett bereitet die Gastgeberin stehenden Fußes ein reichhaltiges Abendessen auf einem Kohlenofen zu. Wir können kaum glauben, was in so kurzer Zeit auf dem Ungetüm gezaubert werden kann und verschlingen das reichhaltige Mal gierig. Satt, zufrieden und begleitet von einigen Kaltgetränken lassen wir zum Tagesausklang die zurückliegenden Stunden Revue passieren und planen gleichzeitig die nächste Etappe. Mit etwas Mühe und einer Deutsch-Russisch-Übersetzung per App bestellen wir Frühstück für den kommenden Morgen um halb sieben und ziehen uns in den mittlerweile per Elektorofen beheizten Schlafraum zurück. Aber Achtung: Der provisorisch angebrachte Stecker muss vor dem Einschlafen gezogen werden! Ansonsten droht angeblich ein Feuer.

Bei strahlendem Sonnenschein starten wir in das golden glänzende, sich verengende Tal des Enguri, den es nach gut zwei Stunden Marsch zu überqueren gilt. Wir haben uns  entschieden, den eisigen Fluss nicht zu durchwaten, sondern bei unseren Vermietern Pferde zu ordern, die uns samt Reiter hinterhergeschickt werden. Diese Phäre (copyright Kristina Jacobsen 😉 bringt uns sodann mirnichtsdirnichts ans gegenüberliegende Ufer.

Dort beginnt der anspruchsvollste Abschnitt der gesamten Wanderung. Zwischen 20 und 27 Prozent Steigung über mehr als zwei Kilometer Wegstrecke sind nicht ohne. Aber die Blicke auf den krachenden Adishi Gletscher und das weit unter uns liegende, im Herbstlaub leuchtende Tal entschädigen für alles. Wenig später erreichen wir auch schon den leicht verschneiten Chkunderi Pass, mit gut 2.700 Metern ü. NN der höchste Punkt der Tour. Von hier aus geht es über offene Grasweiden weniger steil hinab bis nach Khalde, das wir trotz des frühen Aufbruchs im strömenden Regen erreichen. Glücklich, diese ebenso herausfordernde wie eindrucksvolle Etappe gemeistert zu haben. Auch hier werden wir wieder mit swanetischen Köstlichkeiten, Bier und Chacha versorgt und sinken einige Stunden später in die Betten unserer dieses Mal wirklich unbeheizten Zimmer. 

Der nächste Morgen erwartet uns mit kristallklarer Luft, Temperaturen um den Gefrierpunkt und tiefblauem Himmel. Die 16 Kilometer bis Uschguli sind nur selten wirklich steil und führen eine beträchtliche Wegstrecke auf einem schmalen Pfad durch den wunderschönen Wald. Wie schon die Tage zuvor begegnen uns auch heute nur eine Handvoll Wanderer. Immer wieder bieten sich Aussichten auf einen der schönsten Berge des Landes, den Uschba. Mit 4.737 Metern Seehöhe ist er mit seinem Zwillingsgipfel zwar nur die fünfthöchste Ergebung Georgiens, aufgrund ihres prägnanten Erscheinung aber eine der bekanntesten. Für die Hälfte der heutigen Strecke haben wir einen neuen Freund gefunden. Ein leicht humpelnder Hütehund weicht uns bis zum Ziel nicht von der Seite, weist uns die besten Stellen für Bachquerungen und verjagt ganz nebenbei aufdringliche Kühe. Danke dafür, Kleiner! 

Uschguli, das wegen seiner rund 200 mittelalterlichen Wohngebäude und Wehrtürme zum Welterbe der UNESCO zählt, vor uns zu sehen ist, nach insgesamt 2.100 gewanderten Höhenmetern über 42 Kilometer Wegstrecke, ein tolles Gefühl. Das höchstgelegene, dauerhaft bewohnte Dorf Europas* erwartet uns mit angenehmen Temperaturen, Sonnenschein und vielen Optionen, ein oder zwei eisgekühlte Biere zu genießen. Das erhabene Panorama, auf das wir blicken, hat es in sich: Nur acht Kilometer vor uns türmt sich majestätisch glänzend der Schchara mit seinen Nebengipfeln wie eine Wand auf. Auf 5.201 Metern liegt dort nicht nur der dritthöchste Punkt Europas. Hier verläuft auch der Hauptkamm des Kaukasus und mit ihm die georgisch-russische Grenze.

Mit diesen Bildern vor Augen ist es kein Wunder, dass wir uns so gar nicht von diesem Platz am hintersten Ende unseres Kontinents lösen wollen. Doch was sein muss, muss sein. Und so sitzen wir wenig später zu sechst in einem Pickup für fünf Personen, dessen Fahrer gerade noch mit uns Bier und Chacha getrunken hat. Vielleicht musste er sich Mut antrinken? Hatte ein Erdrutsch die Piste nach Mestia doch am Vortage unpassierbar gemacht. Der eilig herbeigerufene Räumdienst leistete allerdings ganze Arbeit. So hieß es: frei Fahrt nach Mestia! Eine ausgiebige Abschlussfeierei anlässlich unserer heldenhaften Wanderung müssen wir leider ausfallen lassen – pandemiebedingte Sperrstunde ab 22 Uhr. 

Zurück in die Zivilisation

Wenn das Zurückliegende, die Natur und Abgeschiedenheit der Berge “Tag” waren, dann ist das, was folgt “Nacht”: Abfahrt von Mestia im einsetzenden Regen, stressige Fahrt in vollbesetzter Marshrutka, Autopanne und Ankunft im wolkenverhangenen Batumi am Grauen, sorry, Schwarzen Meer. Eigentlich hatten wir vor, uns ein oder zwei Tage am Strand zu erholen und eine späte Sommerfrische an der türkischen Grenze genießen. Satz mit X. Die Hauptstadt der Autonomen Republik Adscharien lässt uns komplett im – zumindest einigermaßen warmen – teils heftigen Dauerregen stehen.

Wenn die Sonne scheint, ist Georgiens drittgrößte Stadt mit ihrem wilden architektonischen Mix aus Las Vegas, Dubai, Westeuropa und Orient sicher einen Besuch wert. Die kilometerlange Promenade, die vielen Casinos und Hoteltürme, Moscheen, Synagogen und Kirchen erzeugen einen ganz eigenen Reiz.  Aber wir machen das Beste daraus und nutzen die wenigen Minuten, in denen es nur wenig regnet, um uns von Bar zu Café, zu, Restaurant, zu Bar zu hangeln. Wir erfreuen uns an Leckereien wie Khachapuri adscharischer Art (so etwas wie Pizza mit Butter und Spiegelei) und machen mit dem Chacha Time und dem Garage Wines zwei der schönsten Läden des ganzen Urlaubs ausfindig. Der erste kredenzt klassische Cocktails auf Basis von Chacha, der zweite hippe einheimische Weine in einer alten Autowerkstatt. Bei verriegelter Frontscheibe dürfen wir sogar während der Corona-Sperrstunde bleiben! Angeregte Gespräche mit dem Personal, lassen den Abend bis weit in die Nacht hinein reichen und so letztendlich auch Batumi zu einer schönen Erinnerung werden. 

Der erster Anlauf war bekanntlich ein Reinfall. Aber warum soll gerade die georgische Eisenbahn keine zweite Chance bekommen? Also schnell und unkompliziert Online-Tickets gebucht und ab zum Bahnhof von Batumi. Mit dem “Stadler” wartet hier der ganze Stolz des Staatsunternehmens und wird folglich in den Fahrplänen nicht als InterCity, sondern, unter dem Namen seines Schweizer Herstellers, als “Stadler” geführt. Was seine Pünktlichkeit angeht, macht er dem Ursprungsland alle Ehre; was seine Langsamkeit angeht allerdings auch. Fünf Stunden und vierzig Minuten dauert es auf den teils maroden Schienen, bis wir im Bahnhof von Tiflis ankommen. Es gibt ihn also wirklich! Die für 1. Klasse-Tickets investierten 30 Euro pro Person lohnen sich unbedingt. Breite Ledersitze und einwandfreies W-Lan sind auf der langen Fahrt Gold wert.

Melting Pot an der Kura

Unweit der Rustaveli Avenue, dem Prachtboulevard der Stadt, beziehen wir unsere schönes Airbnb-Wohnung. Sie ist in den kommenden fünf Tagen unser Fixpunkt und bietet ausreichend Platz zum Relaxen zwischen allen Spaziergängen und Ausflügen. Leider macht der laut Einheimischen schlechteste Spätsommer seit 20 Jahren da weiter, wo er in Batumi aufgehört hat. Zwar mit weniger Regen, dafür mit Temperaturen knapp über 10°C empfindlich kühl. Aber angeblich gibt es ja nur falsche Kleidung, und eine Millionenstadt wie Tiflis samt Umland bietet auch unter einer Wolkendecke viel Lohnenswertes.

Die bewegte Geschichte zwischen türkischer, persischer, russischer und sowjetischer Oberhoheit spiegelt sich deutlich im abwechslungsreichen Stadtbild wieder. Während eines nur wenige Stunden umfassenden Rundgangs begegnen wir prachtvollen Bürgerhäusern im Stil der Gründerzeit, türkischen Hamams, stalinistischem Zuckerbäckerstil, sozialistischem Realismus und postmodernen Prestigebauten aus der Zeit seit der zweiten Unabhängigkeit 1991. Wer genau hinschaut, findet auch deutsche Spuren. Entlang der Einkaufsstraße Aghmaschenebeli finden wir noch einige Häuser der von 1818 bis 1941 hier ansässigen Kaukasiendeutschen. Auf ihre einstigen Stadtviertel Alexanderdorf und Neu-Tiflis (direkt am Nationalstadion) sowie die Deportation von 45.000 Menschen aus Georgien und Aserbaidschan weisen deutschsprachige Hinweistafeln hin. Heute leben, Schätzungen nach, wieder um die 2.000 Deutschstämmige in Georgien.

Wir erkunden die Stadt zuerst einmal auf eigene Faust und gewinnen so einen ersten Eindruck. Einen Tag darauf entscheiden wir uns für einen der alternativen Stadtrundgänge der Tblisi Free Walking Tours. Etwa zwei Stunden lang führt uns Levan durch die Backyards of Tblisi. Mit seinen Anekdoten über Tiflis, auf den ersten Blick unscheinbare Gebäude, deren früherer Bewohner und ihrer Geschichten gewinnt er uns im Handumdrehen für seine vielfältige Heimatstadt. Den Preis des Walks bestimmen wir selbst und werfen unser Geld ganz einfach in Levans Rucksack – absolut empfehlenswert! 

Um die nähere Umgebung kennenzulernen, nehmen wir am kommenden Tag erneut einen privaten Fahrer. Auf dem Plan stehen die Welterbestätte der historischen Kirchen und Klöster von Mzcheta, die Felsenstadt Uplisziche sowie die Stadt Gori. Kloster und Kirche hauen uns – trotz ihrer sicherlich beeindruckenden Architektur – nicht so sehr vom Hocker. Das mag am noch immer sehr kühlen und windigen Wetter, aber auch an einer Überdosis vergleichbarer Anlagen während der Reise liegen. Also weiter nach Uplisziche. Dort ist es zwar ebenfalls ziemlich zugig (mit ein wenig Sonne), doch architektonisch etwas für uns ziemlich Einmaliges. Die ab dem 6. Jahrhundert v. Chr. in den Fels geschlagene Siedlung war einst Handelszentrum an der Seidenstraße und wurde schließlich etwa 1.900 Jahre später durch die Mongolen unter Ögedei Khan zerstört. Noch heute beeindrucken die Wohnungen, Hallen und Weinkeller mit ihrem rauen, trotzdem oft kunstvollen Inneren in einer kargen, beinahe baumfreien Landschaft. Am Ende des Rundgangs haben wir die Gelegenheit, an einer kleinen Weinprobe teilzunehmen. Unter anderem serviert man uns den Lieblingswein Stalins. Der Diktator soll den süffigen Rosé kistenweise nach Moskau geordert haben, um ein wenig Heimatgefühl aufkommen zu lassen. Stalin, beziehungsweise sein zweifelhaftes Vermächtnis, ist es auch, was uns und andere Touristen in dessen Geburtsort führt.

Im surreal anmutenden Stalinmuseum von Gori wird auf zwei Etagen dem Tyrannen gehuldigt, als gäbe es an Deportationen, Gulags und Millionen Toten nur sehr wenig auszusetzen.

Im Stalinmuseum GEorgien

Stalin-Tassen, Stalin-T-Shirts, Stalin-Kugelschreiber und vieles mehr werden im Souvenirshop feilgeboten. Im Außenbereich warten schlussendlich das tempelartig überbaute Geburtshaus Dschughaschwilis sowie sein Salonwagen auf eine Stippvisite. Einzig ein kleiner Gang unterhalb des marmornen Treppe im Foyer des Museums thematisiert die dunklen Seiten des Stalinismus. Geschmackssache das Ganze. 

Zurück in Tiflis steht zum Abschluss der Reise Lutz’ Geburtstagsfeier auf dem Programm. Sie bildet den angemessen Rahmen, auf den Gastgeber und eine schöne, an neuen Eindrücken reiche Reise anzustoßen. Es wird vermutlich nicht der letzte Besuch gewesen sein. Bietet Georgien auf überschaubarer Fläche doch alles, was man sich nur wünschen kann: Hochgebirge, Strände, Einflüsse vieler Kulturen, eine moderne Metropole, günstige Preise und – Chacha.

*Je nach Definition gilt der Hauptkamm des Kaukasus als innereurasische Grenze, sodass Georgien sowohl zu Asien, als auch zu Europa gezählt werden kann. Die Georgier selbst bezeichnen ihr Land gerne als den “Balkon Europas”.

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